Herzaffen und Ideenpferde

Blick vom Feldberg im Taunus ©Nuri

Öffnen-schließen, einatmen-ausatmen, am Scheitel wie aufgehängt Verbrauchtes abgeben und Frisches aufnehmen. Das und manches mehr tun wir beim Taijiquan (Tai Chi) und auch im Qigong. Und zähmen so auch unsere Herzaffen und Ideenpferde.

Übend lösen wir die in unseren Muskeln und Organen gespeicherten Anspannungen oder Emotionen und lassen sie mit der Ausatmung abfließen und ausströmen. Tauschen so verbrauchte Energie gegen frische Energie und zentrieren uns dabei – eine ebenfalls wichtige Technik unserer Künste.  Dies hilft uns, mit den Herausforderungen unseres Lebens und den besonderen und auch alltäglichen Belastungen zurechtzukommen, die uns aus dem Gleichgewicht bringen können.

Auch, aber nicht nur, in dieser schon seit vielen Monaten andauernden Pandemie. In der denke ich sicher nicht ganz zufällig wieder öfter an die Herzaffen und Ideenpferde, denen ich im Laufe meiner Ausbildung bei Gerhard Milbrat gerne mal und auch wiederholt begegnet bin.

  • Von Herzaffen sprechen Daoisten mit Blick auf die oft ungeklärten Energien, die unser Herz bewegen: Wünsche, Abneigungen, manche nennen es Anhaftungen.
  • Ideenpferde sind demgegenüber unsere oft irrationalen Vorstellungen, die wir uns zurechtbauen. Gerade wenn wir mit unvollständigen oder auch fehlerhaften Informationen zu tun haben, die  uns irritieren oder beunruhigen.

Oben voll unten leer – ein Stress-Syndrom

Herzaffen und Ideenpferde feiern ihr Fest gerade dann, wenn wir nicht zur Ruhe kommen. Wenn unsere Energie zu weit „oben“ zirkuliert – also wir zu sehr im Kopf sind und dabei womöglich auch noch viele Abneigungen und Wünsche unser Herz bewegen. Dann eskaliert auch gern mal das sonst vielleicht eher friedliche und unspektakuläre Zusammenspiel unserer Herzaffen und Ideenpferde. Und am Ende schwingen sich die Herzaffen den Ideenpferden auf den Rücken und gehen durch. Dann spätestens ist es mit unserer Ruhe vorbei und je nach Lage und Temperament kommt es dann auch zu Ausfällen oder Anfällen: von Panik, Wut oder anderem teils ausgesprochen destruktiven Stress und Verhalten.

Wenig Wunder also, dass ich in letzter Zeit wieder öfter dran denke.

Gerade manche Zusatzbelastung und auch teils in dieser Pandemie ja auch vielleicht berechtigte Sorge stachelt dazu an, den beiden die Zügel zu lassen – und ihnen irgendwann nicht mehr hinterherzukommen. Wenn wir aber so unsere Ruhe verlieren und dadurch aus dem Gleichgewicht kommen, kann das uns und unseren Mitmenschen ganz schön zu schaffen machen.

Im Kopf ruhig werden, im Herzen still

Lösung und Loslösung hängen meiner Erfahrung nach zusammen. Unsere Übungen sind mir persönlich hierbei eine über mittlerweile Jahrzehnte liebgewonnene Angewohnheit und Hilfe geworden. Ein Ritual, ohne ein Ritual zu sein, denn ich passe mein Übungsprogramm meinen Bedürfnissen und im Unterricht auch denen meiner Schülerinnen und Schüler an. Action und Einkehr haben ihren festen und dabei möglichst ausreichend flexiblen Platz im Leben.

Und so werden sie immer mehr dann ein Weg, das zu erreichen, worauf wir mit unseren zahlreichen Übungen neben Gesundheit, Stärkung und Entspannung sowie Zentrierung immer auch abzielen: den Kopf leer und das Herz still werden zu lassen und uns – zumindest zunächst einmal – stabil im Unterbauch zu verankern. Auch in den Füßen, wir gewinnen mit dem Einüben unseres festen Standes auf zwei oder auch einem Bein auch übertragen an Stehvermögen.

So finden wir im Idealfall zur Ruhe, am Scheitel wie aufgehängt. Und dann wirft uns auch in der Pandemie so schnell nichts um – und wir lösen uns und lösen so dann auch Probleme.

Gedanken den richtigen Auftrag geben

Den Herzaffen geben wir eine Banane – die können sich mit unserem Atem beschäftigen. Die Ideenpferde können wir zu für uns und unser Leben sinnvollen Aktionen antreiben, auch in der Pandemie. Ihnen helfen wir gedanklich. Unsere Gedanken sind einem beliebten Sinnspruch folgend unser ärgster Feind und engster Verbündeter. Sie gedeihlich einsetzen zu können, dabei hilft uns Ruhe – und die können wir im Atem finden.

Wie wir atmend auch im Alltag zur Ruhe kommen, hat Mingyur Rinpoche sehr schön beschrieben. Wie es dieser Meister des tibetischen Buddhismus beschreibt, ist Meditation oder nenn es „Zur Ruhe kommen“ jederzeit möglich – wo wir gehen und stehen.

Wu Wei und You Wei

Tun und lassen, vorangehen und zurückweichen, Fauststoß und parieren, Zupacken und ableiten. Auch das und einiges mehr nehmen wir mit dem Taijiquan im Lauf der Zeit in unser Repertoire. Immer dem Prinzip der Natürlichkeit folgend, bei dem unser Tun im Idealfall immer absichtsloser wird. Übend entwickeln wir uns hin zu dieser natürlichen Absichtslosigkeit – erst einmal aus dem gelenkten und bewussten Tun. Am besten täglich.

Dieses bewusste Tun, You wei, kann sich dann mehr und mehr zum natürlichen oder auch „Tun ohne Tun“ entwickeln, dem Fluss der Dinge folgend: Wu wei.

Interessant in dem Zusammenhang fand ich vor ein paar Jahren das Buch von Theo Fischer über Wu wei und wie dies im Alltag aussehen kann.